Dr. Gisela Hermes ist 1958 in Hollage bei Osnabrück geboren und Hochschullehrerin an der Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen. Sie ist seit ihrer Kindheit auf einen Rollstuhl angewiesen, da sie mit neun Monaten an Kinderlähmung erkrankte. Während ihrer Gymnasialzeit nahm sie an einem bundesweiten Modellprojekt zur schulischen Förderung behinderter Kinder teil: Sie lebte in einem Internat für körperbehinderte Schülerinnen und Schüler, die eine Regelschule besuchten. Während dieser Zeit nahm sie mehrfach an den Paralympics teil, wurde aber auch im Zuge der 68er-Bewegung früh politisiert. Sie studierte Diplom-Pädagogik in Marburg und engagierte sich zunächst in der Frauenbewegung, später auch in der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung behinderter Menschen. 1992 gründete sie in Kassel das Bildungs- und Forschungsinstitut zum selbstbestimmten Leben Behinderter (bifos e.V.). Dort widmete sie sich dem Empowerment behinderter Menschen, besonders dem Problem der Lebenssituation behinderter Frauen und dem Thema Elternschaft behinderter Menschen. In ihrer Forschung und Lehre verknüpft sie unter anderem Fragen der Inklusion mit der Geschlechterfrage behinderter Menschen. Sie hat eine Tochter und ist Großmutter.

Meine Eltern haben versucht, keine Unterschiede zwischen uns Kindern zu machen, wobei ich im Nachhinein denke, als nichtbehindertes einziges Mädchen wäre ich wahrscheinlich anders erzogen worden, mehr auf die Mädchenrolle hin. Meine Familie ist katholisch und sehr traditionell. Meine Mutter war Hausfrau, ohne Berufsausbildung. Nun bin ich aber nicht in eine Mädchenrolle hinein erzogen worden, sondern genauso behandelt worden wie meine vier Brüder. Ich hatte sogar den gleichen Haarschnitt. Dahinter steckte allerdings die Vorstellung, dass ich ja niemals einen Partner finden und heiraten würde, wie mir später meine Eltern immer wieder subtil vermittelt haben. Die traditionelle Frauenrolle würde ich als behinderter Mensch nicht ausfüllen können. Deshalb wäre es für mich wichtig, durchsetzungsfähig und leistungsfähig zu werden und mein Köpfchen einzusetzen.

So war ich mit dreizehn auf den Paralympics die jüngste Teilnehmerin. Das war natürlich auch für mein Selbstwertgefühl großartig. Ich konnte körperlich an meine Grenzen gehen und Erfolg haben. Ab vierzehn Jahren habe ich dann Basketball in der Frauen-Nationalmannschaft gespielt und zwar recht lange. Das war für mich auch eine Möglichkeit, rauszukommen, international unterwegs zu sein. Insgesamt war ich bei drei Paralympics dabei. Durch den Teamsport habe ich gelernt zu kämpfen, Ambitionen zu haben, Niederlagen einzustecken, nicht aufzugeben und Teamgeist zu entwickeln, im Team meine Rolle zu spielen. Diese Fähigkeiten haben sich auf mein ganzes späteres Leben ausgewirkt. So war meine Internatszeit prägend für meinen politischen und meinen sportlichen Weg.

Ich war dann ca. vierzehn Jahre lang Geschäftsführerin von bifos e.V. Die Idee des Vereins war, behinderte Menschen zu stärken, zu empowern, damit sie überhaupt ihre Rechte kennenlernen und sich trauen, diese wahrzunehmen. Denn wir hatten gemerkt, dass wir wenige Aktive in Deutschland zu viele Aktivitäten zu stemmen hatten und einfach mehr Mitstreiter*innen brauchten. Außerdem wollten wir erreichen, dass mehr behinderte Menschen politisch denken und sich nicht zu Hause einigeln, und dass sie sich dafür einsetzen ihre Lebenssituation zu verändern. Deshalb sollte es auf der einen Seite Empowerment-Schulungen geben, auf der anderen Seite aber auch mehr wissenschaftliche Studien und Forschungsprojekte, die die Perspektive betroffener behinderter Menschen einnahmen. So etwas gab es nämlich überhaupt nicht und gibt es auch heute noch sehr selten. Meistens forschen nichtbehinderte Forscher über behinderte Menschen und nicht mit ihnen. Das wollten wir im bifos ändern. Wir wollten in unseren Studien behinderte Menschen befragen: Wie seht ihr eure Lebenssituation? Was braucht ihr? Was sind eure Vorstellungen, wie das Leben hier in Deutschland sein müsste, damit ihr gut leben könnt und eure Rechte verwirklicht sind?

Für meine Tochter war es von Anfang an Realität, dass ihre Mutter im Rollstuhl sitzt. Einmal hat mich eine nichtbehinderte Frau gefragt: „Hat sich Ihre Tochter mittlerweile daran gewöhnt, dass Sie im Rollstuhl sitzen?“ Da war das Kind drei Jahre alt. Ich habe geantwortet und meinte das auch ganz im Ernst: „Meine Tochter hat sich allmählich daran gewöhnt, dass andere Mütter nicht im Rollstuhl sitzen.“

Das ganze Interview finden Sie hier als PDF

Dieses Interview wurde geführt von Andreas Brüning.